Anton Kellner
Talstr. 17
66119 Saarbrücken
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Borreliose-Saar – das Konzept
der Praxis Kellner für Diagnose
und Therapie der Lyme-Krankheit
Zeckenbiss

Meine Meinung zur neuen S3-Leitlinie Neuroborreliose

Mit Datum vom 9. November 2018 wurde eine neue S3-Leitlinie (S3: Leitlinie mit allen Elementen systematischer Entwicklung) für Diagnose und Therapie der Neuroborreliose im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht.
Federführend sind Neurologen, ein Infektiologe, ein Kinderarzt und ein Laborarzt.
Leitlinien basieren auf dem Prinzip der so genannten Evidenzbasierten Medizin, das heißt, es werden Studien gesichtet, die nach bestimmten Qualitätskriterien durchgeführt wurden und diese werden im Hinblick auf Fragestellungen analysiert. Auch Expertenmeinungen fließen ein. Anschließend werden im Konsens Empfehlungen ausgesprochen. Diese sind für Ärzte und Therapeuten nicht zwingend verbindlich, können aber als Grundlage für Entscheidungen zum Beispiel bei gutachterlichen Fragestellungen große Bedeutung erlangen.

In der genannten Leitlinie zur Neuroborreliose finden sich Einschätzungen, die von meinen persönlichen, ärztlichen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte erheblich abweichen.
Meine Sichtweise ist ebenfalls durch zahlreiche Veröffentlichungen und wissenschaftliche Studien von ExpertInnen belegt.

Folgende Aussagen sehe ich kritisch:
"Bei der späten (chronischen) Neuroborreliose lassen sich grundsätzlich hohe borrelienspezifische IgG-Antikörper nachweisen"...

Etwa 30 % der chronisch Erkrankten sind nach meinen Auswertungen seronegativ, das heißt sie weisen keine borrelienspezifischen Antikörper (einschließlich Westernblot) auf.
Diese Fälle lassen sich nur mit dem LTT aufdecken (siehe unten).


"In die Analyse gingen überwiegend Fälle mit "früher Neuroborreliose" ein.
Zur Therapie der späten (chronischen) Neuroborreliose waren aus Gründen der Qualität und Methodik 16 Studien mit insgesamt 15 PatientInnen (!) auswertbar.
Diese 15 Fälle konnten wegen der geringen Zahl nicht separat ausgewertet werden."


"Eine Behandlung mit Doxycyclin oral in einer Dosierung von 200 mg ist für die Behandlung der frühen Neuroborreliose ausreichend, bei später (chronischer ) Neuroborreliose werden 3 Wochen empfohlen.
Die Nachkontrolle erfolgt klinisch, nicht labormedizinisch."


"Bei später (chronischer) Neuroborreliose haben 1 Jahr nach Therapieende 60 - 80 % der PatientInnen "Residualsymptome". Eine längerdauernde Antbiose bringe keine Vorteile."

"Das Post-treatment-lyme-disease-syndrome (PTLDS), das heißt das Vorhandensein von Beschwerden nach einer wie eben skizziert durchgeführten Therapie, entbehre einer wissenschaftlichen Grundlage."

"Fortbestehende Beschwerden nach behandelter Neuroborreliose waren insgesamt eher auf ungenaue inkonsequente Diagnostik (das heißt fehlende Durchführung einer Liquor (= Nervenwasser)-Untersuchung) zurückzuführen."

"Der LTT ist eine ungeeignete diagnostische Methode."

Aus meiner Sicht ist eine Borreliose unter folgenden Voraussetzungen als chronisch einzustufen:

  • Es liegen typische Beschwerden vor (z.B. Sehnen-, Gelenk-, Nervenschmerzen, neurologische Symptom, Hautveränderungen des späten Stadiums usw., siehe Ausführungen auf ebendieser Homepage)
  • Es erfolgte ein gründlicher und umfassender Ausschluss anderer Krankheitsursachen
  • Vorangegangene sonstige Therapien blieben ohne langfristige Besserung
  • Eine aktuelle Borrelienpräsenz wurde nachgewiesen (direkt per PCR oder "focus floating microscopy (FFM)", indirekt per LTT)
  • Unter zielgerichteter Therapie der Infektion kam es zu Besserung oder Verschwinden der Beschwerden
  • Ein anschließend durchgeführter LTT war negativ oder:
  • Bei fehlender Beschwerdebesserung unter adäquater Therapie und in der Folge fortbestehend positivem LTT war zunächst Therapieresistenz zu konstatieren
Ein Zecken- /Sauginsekten-Stich oder eine Wanderröte in der Vergangenheit sind nicht zwingend notwendig, aber oft nachweisbar.

Unter diesen Kriterien kann ich auf eine große Zahl von PatientInnen mit chronischer Borreliose zurückblicken.
Die Einschränkung des Krankheitsbildes auf die chronische Neuro-Borreliose ist nicht sinnvoll, da es sich bei chronischer Borreliose um eine multisystemische Erkrankung mit unterschiedlicher Bevorzugung einzelner Organsysteme handelt (häufig: Sehnen, Gelenke, Nerven, Gehirn, seltener: Herz, Augen,...).

Die Aussage, dass eine Therapie von 3 Wochen Dauer mit 200 mg Doxycyclin immer(!) für eine Heilung(?) ausreicht ist, kann ich ebenfalls durch viele Verläufe widerlegen.
Auch bei klinischer Besserung persistieren die Erreger häufig und nicht selten kommt es anschließend auch wieder zu einer Zunahme der Symptome.
Dann ist eine erneute Behandlung erforderlich.
Dieser langsame (schwelende-, "smouldering") Verlauf hat mit dem langen Generations-/Vermehrungszyklus) der Borrelien zu tun.

Momentan lassen sich diese Verläufe laborchemisch nur mit dem LTT nachweisen.
Dass dieser Test im Rahmen der in den Leitlinien fixierten Meinung nicht als valide anerkannt wird, versteht sich dann von selbst!
Dass der Test von der gesetzlichen Krankenversicherung nicht (mehr) erstattet wird, spricht nicht gegen die Wertigkeit des Tests.

Beim Thema des "Post-Lyme-Syndroms" (diesen Begriff vermeide ich normalerweise) oder der "Residualsymptome nach Therapie der späten Neuroborreliose" muss man Fälle, die durch lange Krankheitsdauer irreversible Strukturschäden an Organen und Geweben entwickelt haben, trennen von PatientInnen mit fortbestehender, chronisch aktiver Infektion!
Diese Differenzierung gelingt momentan ebenfalls nur unter Zuhilfenahme des LTT.

Dass eine lang dauernde Antibiotikagabe kritisch gesehen wird, ist aus meiner Sicht hingegen völlig berechtigt.

Die langfristigen negativen Folgen der Antibiose auf das Darmmikrobiom und das Immunsystem sind individuell nach Ausschluss anderer Therapiemöglichkeiten nur unter dem Aspekt des kleineren Übels zu rechtfertigen.

Es sind allerdings auch moderne, ganzheitliche, multidimensionale, hochwirksame Therapiekonzepte verfügbar.
Leider stehen diese einem großen Teil der Betroffenen aus Kostengründen nicht zur Verfügung. Somit bleibt für diesen Personenkreis bei eindeutig geklärter Behandlungsnotwendigkeit oft nur die pharmazeutische Therapie übrig!

Zusammenfassend spiegeln die genannten Leitlinien ein auf Studien basierendes, von Ärzten entwickeltes Konzept für den Umgang mit einer Krankheit wider, die eine zunehmende Zahl von Menschen betrifft.
Im Kontrast dazu steht eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien, die zu anderen Schlüssen gekommen sind.
Dass die chronische (Neuro-) Borreliose in Kenntnis der medizinischen Kontroversen von einem Autor der Leitlinien als "Borrelien-Neurose" abgekanzelt wurde, wird der Komplexität des Problems nicht gerecht.
Welche wissenschaftliche Erkenntnis sich durchsetzen wird, wird die Zukunft zeigen.

So genannte Paradigmenwechsel (Wechsel der grundsätzlichen Lehrmeinung oder Weltanschauung) habe ich bei meiner eigenen Tätigkeit der letzten Jahrzehnte schon öfters erlebt. Sie dauern meist lange Zeit.
Zwei Beispiele hierzu:

  1. 1. Seit 1989 behandele ich PatientInnen mit Adipositas.
    Die Erkrankung wurde lange als Verhaltensstörung und Charakterschwäche abgetan, als Therapeut wurde man von ärztlichen KollegInnen bemitleidet. Mittlerweile sind 23% der deutschen Bevölkerung von krankhafter Adipositas (BMI über 30 kg/qm) betroffen, 66 % der Männer haben Übergewicht. Die Pharmazeutische Industrie, die gerne Medikamente zur Behandlung von Volkskrankheiten entwickelt und vermarktet, hat ob der Komplexität der Erkrankung frühzeitig die Segel gestrichen. Als einzig wirklich wirksame Therapie ist heute die Chirurgische Magenverkleinerung (Bariatrie) etabliert.
    An der Einstufung der Adipositas als Krankheit besteht juristisch kein Zweifel mehr — von Adipositas Grad 3 Betroffene haben mittlerweile einen Rechtsanspruch auf einen bariatrischen Eingriff. Die Einstufung der Adipositas in der Wissenschaft als Erkrankung ist mittlerweile eindeutig — Vorbeugung und nicht operative Behandlungsmaßnahmen werden von den Kostenträgern weiterhin restriktiv behandelt.

  2. Seit Jahrzehnten werden Antibiotika unkritisch verordnet. Der Schutz des Darmmilieus (Mikrobioms) durch Probiotika spielt immer noch eine untergeordnete Rolle. Diese Vorgehensweise kann zu enormen Folgeproblemen führen (resistente Keime, chronische Bauch- und Verdauungsbeschwerden, umfangreiche, belastende Diagnostik usw.). Die vielfältigen Beschwerden werden häufig als "Reizdarm" eingestuft. Bei genauer Diagnostik lassen sich organische Veränderungen nachweisen.
    Das hierauf basierende Konzept des durchlässigen Darms = ("leaky gut") wird von vielen ÄrztInnen immer noch als alternativmedizinisch eingestuft.
    Modern denkende GastroenterologInnen beschreiben mittlerweile in Studien vielfältige, zugrunde liegende organische Veränderungen beim sogenannten "Reizdarm".
    Von der Gabe von Probiotika wird in der letzten Version der S3-Leitlinie für die Behandlung des "Reizdarmes" von 2016 abgeraten. Die Verabreichung von Probiotika parallel zu einer antibiotischen Therapie wird immer noch nicht konsequent gehandhabt.

Zum weiteren Nachschlagen für Studien zu den Kontroversen beim Thema Borreliose empfehle ich die Lektüre des Referenz- und Standardwerkes von
Herrn Dr. Walter Berghoff, Lyme-Borreliose, 1. Auflage, 2016.


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